Interview Andreas Lipsch
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"Es geht um alle. Es muss um alle gehen, weil Hoffnung, Zuversicht und Zukunft nie gegen andere, sondern nur mit anderen möglich sind. Das gilt international, das gilt in Deutschland, in Hessen, in jedem Gemeinwesen.“
Seine Positionen finden Resonanz, zugleich ist seine Sorge um die Zukunft von Menschenrechten und um Errungenschaften wie das Asylrecht groß: Ein Gespräch mit Pfarrer Andreas Lipsch, dem Interkulturellen Beauftragten der Evangelischen Kirche in Hessen Nassau und Leiter der Abteilung Flucht, interkulturelle Arbeit, Migration der Diakonie Hessen
Herr Lipsch, was zeichnet eine evangelische Sozialpolitik aus?
„Zuallererst eine klare Orientierung an Grund- und Menschenrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien. Das ist uns in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, weil diese Werte heute nicht nur von rechtsradikaler Seite infrage gestellt werden. Wir riskieren gerade, zentrale zivile und rechtliche Errungenschaften aufs Spiel zu setzen – das besorgt uns sehr.“
Vor welcher Herausforderung stehen wir heute?
„Die Herausforderung liegt nicht darin, dass wir zu viel Migration haben, wie oft zu hören ist, sondern darin, dass wir zu wenig Migration haben. Und deshalb hoffen wir, dass Verantwortliche endlich die Perspektive wechseln und Migration nicht länger vor allem als Problem sehen. Migration ist Teil der Lösung. Darüber wird viel zu wenig gesprochen, dabei ist dieser Perspektivwechsel dringend notwendig. In den vergangenen Jahren ist integrationspolitisch vieles gut gelungen, daran sollten wir anknüpfen.“
Woran anknüpfen?
„Zum Beispiel an die Arbeitsmarktintegration der letzten zehn Jahre, die insgesamt ausgesprochen erfolgreich gewesen ist. Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, hat kürzlich festgestellt, dass die Geflüchteten, die 2015 kamen, heute sehr gut integriert sind, (Anm d. Red.: siehe die Zahl des Monats hier.). Ihre Beschäftigungsquote liegt mittlerweile fast auf dem Niveau der Gesamtgesellschaft. Damit wurden selbst optimistische Prognosen übertroffen. Über solche Erfolgsgeschichten wird viel zu selten berichtet.
Daran sollten wir wieder anknüpfen: Rechtliche Hürden wurden abgebaut statt neue zu schaffen, die Zivilgesellschaft wurde einbezogen – kurzum: Es wurde eine Kultur der Ermöglichung gelebt.“
Was läuft gut?
„Neben der Arbeitsmarktintegration und dem Abbau rechtlicher Hürden war und ist das freiwillige Engagement von großer Bedeutung. Es trägt entscheidend dazu bei, niedrigschwellig Teilhabe zu ermöglichen.
Auch die Integration in den Kommunen lief besser, als häufig behauptet wird. Wissenschaftliche Umfragen zeigen, dass die Mehrheit ihre Belastungsgrenzen keineswegs überschritten. 60 Prozent der Kommunen beschreiben die Aufnahme vieler Geflüchteter seit 2015 als ‘herausfordernd, aber machbar‘. Viele haben Integrationsstrukturen aufgebaut, im realistischen Bewusstsein, dass Flucht und Migration keine Ausnahme sind, sondern eine bleibende Aufgabe darstellen.
Und schließlich ist da das gute Beispiel der Aufnahme Geflüchteter aus der Ukraine. Durch einen erstmals angewandten europäischen Schutzstatus nach der ‘EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz‘ konnten sie schnell und unbürokratisch aufgenommen und untergebracht werden - ohne aufwändige Asylverfahren, ohne das Nadelöhr der Erstaufnahme konnten sie direkt in Wohnungen ziehen und arbeiten. Das war eine politisch kluge Entscheidung, eine immense Erleichterung für die Geflüchteten und eine effiziente Entlastung für die Gesellschaft.
All das zeigt: Offen geht es besser als restriktiv.“
Was können wir besser?
„Die Behauptung, Geflüchtete seien schuld am Wohnungsmangel, an fehlenden Kita-Plätzen oder überforderten Schulen, ist schlicht falsch. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und an einer funktionierenden Bildungsinfrastruktur ist seit langem bekannt. Migration hat lediglich verdeutlicht, wie dringend Innovationen und Investitionen hier notwendig sind. Wer behauptet, diese Infrastruktur durch Abschiebungen zu entlasten, muss auch erklären, wo die 400.000 Menschen wohnen und lernen sollen, die Politik und Wirtschaft jährlich als notwendige Zuwanderung einfordern.
Wir brauchen also keine Sündenböcke, sondern vielmehr ein Sonderprogramm für eine nachhaltige und migrationstaugliche soziale Infrastruktur. Entscheiden wir uns dagegen, bedeutet das Wohlstandsabbau in diesem Land.“
Warum müssten wir sonst Wohlstandseinbußen hinnehmen?
„Studien zeigen: Ohne Migration sinkt das Potential der Erwerbstätigen bis 2060 um 35 Prozent, bis 2070 sogar um 40 Prozent. Für Wirtschaft und Gesellschaft wäre das ein Desaster. Schon heute suchen Unternehmen und Handwerksbetriebe händeringend Arbeitskräfte, nicht nur Hochqualifizierte übrigens.
Diese Gesellschaft altert und Arbeitskräfte fehlen. Das ist Fakt. Deshalb brauchen wir Migration. 400.000 Menschen pro Jahr, schätzen Forschung und Wirtschaft. Um das zu schaffen, müssen wir aufnahme- und integrationsfähig werden. Und deshalb sollten wir froh sein, dass ehemalige Schutzsuchende heute so gut in den Arbeitsmarkt integriert sind. Sie sind ein wichtiger Teil der Lösung. Was ich damit sagen will: Die, die da sind, sind die Richtigen. Ohne sie sähe es wirtschaftlich deutlich düsterer aus.“
Was können wir Bürgerinnen und Bürger tun?
„Auf jeden Fall anpacken. Überall ist praktische Unterstützung gefragt: in Schulen oder beim Ankommen im Alltag. Das Besondere an solchem Ehrenamt: Wer sich engagiert, verändert nicht nur die Situation anderer, sondern auch sich selbst. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, wie wir sie 2015 beobachten konnten, schenkt eine neue Haltung und Zuversicht.
Heute geht es aber noch um mehr als Integration und die Bewahrung des Asylrechts. Zentrale Grund- und Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien werden infrage gestellt und müssen dringend verteidigt werden. Bürgerschaftliches Engagement muss autoritären Versuchungen etwas entgegensetzen, indem es Solidarität und Kooperation lebt. Was wir dringend brauchen, ist eine Menschenrechts- und Demokratiebewegung.“
Welche Rolle spielt die Diakonie?
„Wir versuchen Teil einer solchen Menschenrechts- und Demokratiebewegung zu werden, indem wir freiwilliges Engagement professionell unterstützen, indem wir Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession profilieren, indem wir vor Ort Räume der Begegnung schaffen, wo Menschen ins Gespräch kommen, Dissens aushalten und Probleme teilen, wo die Würde jedes Menschen geachtet und geschützt wird. Weil Kirche und Diakonie das nicht alleine schaffen können, arbeiten wir zunehmend in Bündnissen mit anderen Akteuren und Bewegungen.“
Zusammefassend: Was ist bedeutend?
„Ich denke, zweierlei. Erstens der beschriebene Perspektivwechsel: Migration ist nicht das Problem, sondern eine Chance. Die eigentliche Herausforderung aber liegt im Auf- und Ausbau einer sozialen Infrastruktur, die allen zugutekommt.
Und das ist der zweite entscheidende Punkt: Es geht um alle. Es muss um alle gehen, weil Hoffnung, Zuversicht und Zukunft nie gegen andere, sondern nur mit anderen möglich sind. Das gilt international, das gilt in Deutschland, in Hessen, in jedem Gemeinwesen.
Ich weiß: Vielen ist die Hoffnung abhandengekommen, dass es für alle reicht. Gerade deshalb ist es vielleicht unsere wichtigste Aufgabe, diese Hoffnung neu zu entfachen: die Hoffnung, dass es genug für alle geben kann. Und dass das nur miteinander gelingt.“
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